Toleranz ist, das andere zu lieben
Das Schönste, was ich bisher zum Thema Toleranz gehört habe, war eine Aussage – sehr nett eingebettet in eine Hochzeitsfeier im verschneiten slowenischen Hinterland – an die ich mich gerne erinnere: „Toleranz ist das andere/ den anderen zu lieben“
Lieben? Muss es gleich so viel sein? Nö, muss nicht. Im Lateinischen Ursprung bedeutet das Wort „tolerare“ ertragen, zulassen. Um etwas zuzulassen – muss man dafür nicht aus einer erhobenen Position heraus handeln? Also beinhaltet „zulassen“ nicht gleichzeitig etwas „Herablassenes“? Ich finde schon… Ich bin da tolerant. Vielleicht noch mit einem milden Lächeln.
Die Kunst des Liebens
Zurück nach Slowenien: Lieben. Kennt ihr das Buch Die Kunst des Liebens. Von Erich Fromm. Lange ein Bestseller bevor es Bestseller gab, in den 70er Jahren. Fromm sieht darin Liebe nicht als passives „Nehmen“-Gefühl, sondern als aktive „Geben“-Fähigkeit, die man entwickeln kann. Wer lieben lernen möchte, muss demnach an sich selbst arbeiten – er unterscheidet dabei zwischen „reifer Liebe“ und „unreifer Liebe“. Unreife Liebe sei egozentrisch, und beruhe auf der Suche nach dem „richtigen Objekt“, während reife Liebe auf Fürsorge, Verantwortung, Respekt und Wissen basiere. Die Kunst des Liebens ist somit auch eine Kunst des Lebens und der Selbstentfaltung.
Lieben statt ertragen?
Kann ich den anderen mit alle seinen Facetten, mit seinen Andersheiten lieben – statt ihn bloss zu ertragen? Ist es nicht sogar absurd, Andersartigkeiten zu „ertragen“, man sei ja schliesslich tolerant?
Wenn Liebe bedeutet, wertschätzend zu würdigen, oder im yogischen Sinne, das „Göttliche in Dir zu begrüssen“, könnte das nicht viel grossartiger und sinnvoller sein, als es bloss zu „ertragen“?
Ich habe festgestellt, dass Energie automatisch dorthin fliessen kann, wo die Musik spielt. Menschen, denen man begegnet, mit Wertschätzung zu begegnen kann grosse Schätze aufdecken. Toleranz mag ein schönes Schlagwort (autsch) sein – aber für ein wertvolles Miteinander ist es meiner Meinung nach nicht das Richtige.
… und so kommen wir zum Thema Andersartigkeit
Anders als – die anderen? Anders als – du, als ich? Wer bewertet das? Wir wissen es, ganz tief in uns drin wissen wir, dass Andersartigkeiten immer in Abgleich mit uns selbst festgestellt werden. Welch kleine Welt 🙂 Auf dem Weg zur Bewusstseins-Erweiterung, zur Offenheit, stelle ich die Andersartigkeit an sich in Frage. Stelle ich nur eine Andersartigkeit fest, oder gleiche ich es mit besser oder schlechter ab?
Bei Kindern findet man das Prinzip leichter: Neues wird neugierig untersucht, Fragen gestellt, geguckt. Stellt es keine Bedrohung dar oder passt es grundsaetzlich, ist das Thema Andersartigkeit schnell vom Tisch.
Besser oder schlechter?
Anders bei Erwachsenen. Ganz böse wird es, wenn immer wieder betont wird, dass Andersartigkeit nichts Schlechtes sein muss…. Man kenne ja auch viele nette ….(hier beliebige Minderheit eintragen) Oder …. (hier beliebige Minderheit eintragen) Oder … (hier beliebige Minderheit eintragen) + (…) und (…)…. 😉 Dann kommt die Bedeutung des Wortes Toleranz der freundlichen Wertschätzung und einem Miteinander ganz schnell in die Quere: das eigene ist „normal“ = gut, das andere ist anders, also schlecht. Simplifiziert, aber leider wahr. Die Bewertung schafft das Problem!
Die wahre Natur der Dinge
Die Bewertung – besser – schlechter – nimmt uns den Blick, nimmt uns die Liebe, nimmt uns die Würde. Mein Wunsch an uns alle: Dinge, Situation, Menschen wahrnehmen, achtsam wahrnehmen, liebevoll wahrnehmen – aber sie NICHT in besser oder schlechter (als ICH) einteilen. Viveka, die Unterscheidungskraft, lehrt uns nicht, zwischen besser oder schlechter (als unser momentanes eingeschränktes Weltbild) zu unterscheiden. Mit Viveka unterscheidet man zwischen dem Wahren, dem Ewigen und Unveränderlichen und dem Unwahren (dem Vergänglichen). Es ist die Fähigkeit, zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden und die wahre Natur der Dinge zu erkennen.
Und das ist es doch, was wir wollen, oder? Die wahre Natur der Dinge erkennen. Zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden. Den Menschen hinter dem Äusseren zu erkennen. Das Sein erforschen, sich vom Schein nicht blenden lassen. Tiefe Verbindungen zu finden. Erkenntnis erlangen…
Viveka kann man üben. Reflektieren. Meditieren. Bleibe nicht an „Deiner Meinung“ haften. Verwende das „Sieb der Weisen“, bevor Du Deine Meinung bildest und kundtust. Verfeinere Deine intuitive Fähigkeit zu klaren Einsichten und Entscheidungen.
Was dafür notwendig ist: Lieben statt tolerieren. Gleichmut und Unterscheidungskraft. Abhyasa und Vairagya – Nichtanhaften und staendiges Bemühen…
Hari om tat sat.
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Schreib in den Kommentare über Deine eigenen Tipps oder frag gerne, wenn Du Fragen hast. Viel Erfolg, Glück und eine gute Portion Viveka 🙂